Ein Plädoyer für den Menschen
Sehr geehrte Mitglieder des Weltenrates!
Wie gewünscht lasse ich Ihnen hiermit mein schriftliches Statement zukommen, da ich leider nicht persönlich der Anhörung beiwohnen kann.
Lange Zeit haben wir nun die Erde nun umkreist, studiert, beobachtet, infiltriert und ausgehorcht. Ich bin einer der ältesten interstellaren Forscher auf diesem sonderbaren, blauen Planeten und habe selbst zahllose Berichte an den Rat darüber verfasst, wie schändlich die Menschen hier mit ihrem Lebensraum, ihren Mitbewohnern und sich selbst umgehen, welche großen und sehr großen Konflikte, Mängel und Probleme es hier gibt, wie viel noch gelernt werden muss und wie viel dabei noch schiefgehen kann.
Dennoch war ich schockiert, als ich die Meldung erhielt, dass nun eine Anhörung darüber stattfinden soll, ob der Planet zerstört werden soll, bevor eine ernstzunehmende Gefahr für andere von ihm auszugehen beginnt.
Ich habe nun lange, lange Jahre unter den Menschen verbracht und bin trotz anfänglicher Skepsis zu dem Schluss gekommen, dass es unendlich schade um sie wäre.
Sehen Sie, das Problem hier ist, dass man sie nicht nur als Masse sehen darf. Unbestritten, als Masse machen sie vieles falsch. Als Masse sind sie blind, taub, träge und unglaublich dumm. Aber wie anders, wie faszinierend und einzigartig wird es, wenn man sie einzeln betrachtet! Jeder einzelne Mensch ist eine Welt für sich. Und zwar nicht nur die außerordentlichen, die etwas Erstaunliches vollbringen, die etwas erfinden oder wunderbar singen können oder erfolgreiche Geschichten schreiben, sondern auch die gewöhnlichen, unauffälligen. GERADE die gewöhnlichen, unauffälligen, weil sie ihre Wunder oft ohne Anerkennung und ohne Belohnung vollbringen, einfach, weil sie so sind, wie sie sind und das tun, was sie für richtig halten.
Zählt die schlaflosen Nächte, in denen Babys herumgetragen und kranke Kinder behütet werden. Zählt die Hände, die unermüdlich Alte und Kranke pflegen. Zählt die Blaulichter, unter denen einer dem anderen das Leben rettet. Zählt die Schultern, an denen sich Verzweifelte ausweinen können. Zählt die Ohren, die denen zuhören, die etwas loswerden müssen. Zählt die Arme, die jemanden halten, der sonst fällt. Es sind viele. Unzählige.
Die Menschen machen einen Fehler, den wir nicht machen sollten: Sie legen zu viel Gewicht auf das, was nicht gut ist. Sie konzentrieren sich zu sehr auf ihre Kriege, ihre Krisen, ihre Gewalttäter, ihre Verbrecher. Sie erzählen einander so viel von den Schlechten und so wenig von den Guten, dass sie glauben, die Bösen seien in der Überzahl – aber das stimmt nicht. Ich habe sie beobachtet, ich habe sie gezählt, ich habe sie hochgerechnet. Und ja, es gibt sie, die Ungerechten, die Gemeinen, die Verursacher von Leid und Tragödien. Aber sie sind deutlich in der Minderzahl. Die meisten, die wirklich allermeisten Menschen sind gut. Sie wissen es nur nicht, und man hört auch nichts von ihnen.
Sie sind mutig und sie behaupten sich tapfer in dieser vermeintlich so schlechten Welt. Sie wissen nichts von anderen Welten, sie glauben sich allein in einer großen Leere, auf einem großen Stein, der mit unglaublicher Geschwindigkeit durch das All schießt, und niemand weiß, wo er einmal landen wird. Wie viel Mut das abverlangen muss, in einem solchen Blindflug doch so zuversichtlich zu bleiben. Raketen zu bauen, auch wenn sie nur bis zum eigenen Mond reichen.
Dreihunderttausend Jahre sind nichts! Gebt ihnen noch ein paar hunderttausend und lasst euch zeigen, wozu sie fähig sind, wenn sie erwachsen sind. Denn noch sind sie Kinder, und mit Kindern muss man sehr viel Geduld haben. Ihr werdet überrascht sein, was das für außerordentliche Erwachsene werden können. Gebt ihnen noch eine Chance, denn es bewegt sich vieles in die richtige Richtung. Es braucht nur Zeit.
Marina Kranewitter, Wörgl